Das Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gilt unabhängig davon, ob der Unfähigkeit des Mieters, die Konfliktsituation angemessen zu bewältigen, Krankheitswert zukommt oder nicht, und dass die Schutzbedürftigkeit des Mieters nicht allein dadurch entfällt, dass er an der Behandlung seiner psychischen Erkrankung, aus der eine Suizidgefahr resultiert, nicht mitwirkt.
Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Bei der hierzu vom Tatrichter nach gründlicher und sorgfältiger Sachverhaltsfeststellung vorzunehmenden Gewichtung und Würdigung der beiderseitigen Interessen und ihrer Subsumtion unter die unbestimmten Rechtsbegriffe der genannten Vorschrift hat das Revisionsgericht den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren und kann regelmäßig nur überprüfen, ob das Berufungsgericht Rechtsbegriffe verkannt oder sonst unzutreffende rechtliche Maßstäbe angelegt hat, ob es Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze hinreichend beachtet hat oder ob ihm von der Revision gerügte Verfahrensverstöße unterlaufen sind, indem es etwa wesentliche Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt hat (vgl. BGH, NZM 2021, 361 RN.; NZM 2023, 35 Rn. 23).
Als Härtegründe kommen nur solche mit einem Umzug verbundenen Nachteile für den durch § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB geschützten Personenkreis in Betracht, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben (vgl. BGH, BGHZ 222, 133 R. 28). Nach der Rechtsprechung des BGH können Erkrankungen in Verbindung mit weiteren Umständen einen Härtegrund in diesem Sinne darstellen. In bestimmten Fällen, nämlich wenn der gesundheitliche Zustand einen Umzug nicht zulässt oder im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters, Familien- oder Haushaltsangehörigen besteht, kann sogar allein dies ein Härtegrund sein.
Werden von dem Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht, haben sich die Tatsacheninstanzen beim Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann. Diese Verpflichtung zu besonders sorgfältiger Nachprüfung des Parteivorbringens bei schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt nicht zuletzt aus der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BGH, NJW-RR 2019, 972 Rn. 37).
Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in diese Rechtsgüter. Es stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet. Danach hat der Staat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen (BVerfGE 142, 313 Rn. 67 ff.; 158, 131 Rn. 64; BGH, FamRZ 2024, 213 Rn. 44). Das gerichtliche Verfahren ist daher so durchzuführen, dass der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird. Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr sind die Gerichte deshalb verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen und den hieraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen.
Im Hinblick auf die Pflicht des Staates zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit hat der BGH dementsprechend eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB beim Bestehen der (sehr) hohen Gefahr eines Suizids des Mieters für den Fall des Erlasses eines Räumungsurteils angenommen (vgl. BGH NZM 2023, 35, Rn. 24, 30). Hierbei hat er betont, dass das in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltene Gebot unabhängig davon gilt, ob der Unfähigkeit des Mieters, die Konfliktsituation angemessen zu bewältigen, Krankheitswert zukommt oder nicht, und dass die Schutzbedürftigkeit des Mieters nicht allein dadurch entfällt, dass er an der Behandlung seiner psychischen Erkrankung, aus der eine Suizidgefahr resultiert, nicht mitwirkt. Es bedarf vielmehr auch in einem solchen Fall stets einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls. Das steht im Einklang damit, dass die Unfähigkeit, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe eine Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht nur dann Beachtung verdient, wenn sie durch eine bereits festgestellte Krankheit verursacht wird. Vielmehr muss der Umstand, dass der zwangsweise Verlust der Wohnung zum Suizid führen kann, unabhängig davon beachtet werden, ob die Suizidalität auf einer – psychischen oder sonstigen – Erkrankung oder auf anderen – persönlichkeitsbedingten – Ursachen beruht (vgl. BVerfG, NJW 1994, 1719, 1720; NJW-RR 2001, 1523 f.).
Dementsprechend ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Einzelfallumstände zu entscheiden, ob wegen der Gefahr eines Suizids für den Fall des Verlusts der bisherigen Wohnung das Vorliegen einer Härte anzunehmen ist oder ob eine solche im Hinblick auf zugängliche und zumutbare, aber nicht genutzte Beratungen sowie ärztliche oder therapeutische Behandlungen abzulehnen (oder anderenfalls jedenfalls im Rahmen der anschließend vorzunehmenden Interessenabwägung den Interessen des Vermieters der Vorrang einzuräumen) ist.
Bei der Feststellung des Vorliegens einer Härte ist ebenso wie bei deren Gewichtung im Rahmen der Interessenabwägung zwischen den berechtigten Belangen des Mieters und denen des Vermieters zu berücksichtigen, ob und inwieweit sich die mit einem Umzug einhergehenden Folgen durch die Unterstützung des Umfelds eines Mieters beziehungsweise durch begleitende ärztliche oder therapeutische Behandlungen mindern lassen. Dabei kann von dem Mieter auch jedes zumutbare Bemühen um eine Verringerung des Gesundheitsrisikos verlangt werden. Es kann mithin zu berücksichtigen sein, ob eine bei Verlust der Wohnung bestehende Suizidgefahr durch eine Therapie beherrschbar ist. In diesem Rahmen kann unter besonderen Umständen bereits das Vorliegen einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 BGB zu verneinen sein.
Nach der Rechtsprechung des BGH ist bei der – im Falle der Bejahung einer Härte erforderlichen – Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Mietvertragsparteien im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum Ausdruck kommen. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat stets auf der Grundlage der sorgfältig festzustellenden Einzelfallumstände zu erfolgen und sich an den konkreten Umständen des zu beurteilenden Einzelfalls auszurichten. Dabei ist es angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse unzulässig, bestimmten Belangen des Vermieters oder des Mieters von vornherein – kategorisch – ein größeres Gewicht beizumessen als denen der Gegenseite.
Sofern das Gericht bei umfassender Abwägung aller Einzelfallumstände zu der Annahme gelangen sollte, dass die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter eine Härte bedeutet, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist, wird es im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens zu prüfen haben, für welche Zeit und zu welchen Bedingungen das Mietverhältnis gemäß § 574a Abs. 2 BGB fortzusetzen ist (vgl. BGH, NZM 2017, 286 Rn. 32; BGHZ 222, 133 Rn. 71; NZM 2020, 276 Rn. 43).
Hierbei hat das Gericht zu berücksichtigen, dass die Fortsetzung nach der gesetzlichen Bestimmung – im Regelfall – nur auf bestimmte Zeit erfolgen soll (vgl. BGH, NZM 2023, 35 Rn. 57). Insoweit wird im Rahmen einer mit Tatsachen zu untermauernden Prognose – abhängig von der aktuell bei dem Mieter gegebenen Gesundheitsgefährdung und der Einschätzung des Sachverständigen zu deren Schwere und zu den Möglichkeiten einer Milderung durch begleitende Maßnahmen – zu beurteilen sein, für welchen Zeitraum im Falle einer entsprechenden Mitwirkung des Mieters das einer Verurteilung zur Räumung entgegenstehende Hindernis voraussichtlich fortdauern wird. Dabei ist jedes dem Mieter zumutbare Bemühen um eine Verringerung der Suizidgefahr zu berücksichtigen. Zudem genügt es, wenn die mit der Beendigung des Mietverhältnisses einhergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen jedenfalls so weit abgemildert sind, dass sie keine nicht zu rechtfertigende Härte mehr darstellen (vgl. Schmidt-Futterer/Hartmann, Mietrecht, 16. Aufl., § 574a BGB Rn. 12; siehe auch BeckOGK-BGB/Emanuel, Stand: 1. Januar 2024, § 574a Rn. 17).
Randnummer54
Aber auch dann, wenn ungewiss bleiben sollte, innerhalb welchen zeitlichen Rahmens der Härtegrund mit Hilfe von begleitenden Maßnahmen voraussichtlich wird überwunden werden können, muss das Gericht nicht zwingend die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit anordnen. Der Gesetzgeber wollte ihm (lediglich) diese Möglichkeit eröffnen. Auch insoweit ist dem Gericht durch das Gesetz ein – rechtsfehlerfrei auszuübendes – Ermessen eingeräumt.