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Anknüpfungspunkt im Kindschaftsrecht ist der unbestimmte Rechtsbegriff des „Kindeswohls“. Dabei ist es die Aufgabe der Familiengerichte, Entscheidungen über Eingriffe in die elterliche Sorge zu treffen und den Rechtsbegriff „Kindeswohl“ auszulegen.

 

Die Prüfung des Kindeswohls erfolgt in Sachen der elterlichen Sorge vielfach mittels der Einholung von Sachverständigengutachten. Dabei werden unterschiedliche Kriterien bei der Begutachtung herangezogen.

Zu unterscheiden ist grds. zwischen kindbezogenen und elternbezogenen Sorgerechtskriterien.

 

Beispiele für kindbezogene Sorgerechtskriterien sind:

 

  1. Beziehungsmerkmale des Kindes zu den Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, andere Bezugspersonen)
  2. Bindungsmerkmale
  3. Wille des Kindes
  4. Kontinuitätsprinzip

 

Beispiele für elternbezogene Sorgerechtskriterien sind:

 

  1. elterliche Erziehungsfähigkeit
  2. Förderungsprinzip
  3. Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft
  4. Bindungstoleranz der Elternteile

 

Die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht wurden in der 2. Auflage der Arbeitsgruppe familienrechtliche Gutachten festgelegt. Durch die Arbeitsgruppe wurde zu den psychologischen Fragestellungen festgestellt, dass die Begutachtung im kindschaftsrechtlichen Verfahren folgendes erfassen und beurteilen soll:

  • die familiären Beziehungen und Bindungen;
  • die Ressourcen und Risikofaktoren in der Familie;
  • die Kompetenzen der Eltern/Sorgeberechtigten, ihre Erziehungsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme, Bindungstoleranz;
  • die Entwicklungsstands, die Bedürfnisse des Kindes, den Kindeswillen, die Kompetenzen und die aktuelle Situation des Kindes, evtl. besondere Belastungen und Beeinträchtigungen.

 

Im Einzelnen führt die Arbeitsgruppe zu den Mindestanforderungen an die Qualität folgendes aus (S. 11 ff.):

 

  1. MINDESTANFORDERUNGEN AN EINZELNE SCHRITTE DER BEGUTACHTUNG
  2. Auftragsannahme (u. a. Prüfung der eigenen Sachkunde, Neutralität, zeitliche Verfügbarkeit)
  3. Aktenanalyse
  4. Ggf. Formulierung psychologischer/klinischer Fragen ausgehend von der gerichtlichen Fragestellung
  5. Untersuchungsplanung nebst Kontaktaufnahme
  6. Durchführung der Untersuchungen

Hierbei ist in der Regel Folgendes zu beachten:

  • Angemessene Erklärung gegenüber den Beteiligten über die Fragestellung und den Untersuchungsplan,
  • Exploration (und ggf. Diagnostik) beteiligter Eltern und Kinder sowie anderer Beteiligter,
  • Diagnostik des Trennungssystems (z.B. Bedingungsfaktoren für die Konfliktdynamik),
  • Diagnostik der Eltern-Kind-Beziehungen (v. a. Verhaltensbeobachtungen),
  • Diagnostik spezifischer Problemlagen in der Familie. bei Bedarf:
  • Hausbesuche,
  • Testverfahren, Fragebögen und/oder sonstige explorationsergänzende Verfahren,
  • Informationen und Befunde Dritter (mit Einwilligung der Parteien und ggf. des Gerichts).
  1. Interpretationen und Beurteilung der Ergebnisse bei Bedarf:
  • Erarbeitung von vorläufigen Regelungsmodellen im Sinne einer Prozessdiagnostik in Abstimmung mit den Beteiligten,
  • Definition von Abbruchkriterien bei eingeschränkter Mitwirkung der Betroffenen, bei Kindeswohlbelastung oder besserer Eignung anderer Interventionen, bei Interventionen:
  • Erprobung der Interventionen bzw. ihre Überprüfung auf Angemessenheit in Absprache mit den Beteiligten,
  • Rückmeldung an das Gericht bei Einvernehmen,
  • bei Abbruch der Bemühungen um Einvernehmen müssen Sachverständige in der Lage sein, eine sachgerechte Darlegung des Abbruchs und eine fachlich begründete Empfehlung im Sinne der gerichtlichen Fragestellung abzugeben.
  1. Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung

 

  1. MINDESTANFORDERUNGEN AN DAS (SCHRIFTLICHE) GUTACHTEN

Formaler Rahmen

  1. – Sinnvolle Gestaltungsvorgaben

Hierbei ist in der Regel Folgendes zu beachten:

  • Seitennummerierung des Gutachtens
  • Nennung des Aktenzeichens
  • Nennung des Sachverständigen samt seiner wesentlichen relevanten beruflichen Abschlüsse und Zusatzqualifikationen
  • Nennung des Auftraggebers
  • Nennung der wörtlichen Fragestellung
  • Nennung der eingesetzten Methoden
  • Nennung der Untersuchungstermine mit Datum, Ort und Dauer
  • Die Quellen für den Befund, also die wesentlichen Untersuchungsergebnisse und Unterlagen oder Auskünfte dritter Personen, sind im Einzelnen darzulegen. Dabei sind Datengrundlage und Interpretation zu trennen.
  • Nennung sämtlicher weiterer Informationsquellen wie beispielsweise Unterlagen und Auskünfte Dritter.
  • Nennung von Hilfskräften bei Tätigkeiten von nicht untergeordneter Bedeutung für die Begutachtung. Für Dritte muss ersichtlich sein, welcher Untersucher bei welchen Teilen des Gutachtens mitgewirkt hat.
  • Das Gutachten muss von dem beauftragten Sachverständigen persönlich und mit Datum versehen unterschrieben sein.
  • Literatur sollte angeführt werden, soweit im Gutachten darauf explizit Bezug genommen wird.
  1. Grundlagen der Begutachtung Hier erfolgt die Wiedergabe der

Anknüpfungstatsachen auf der Basis der Aktenanalyse.

 

  1. Fachliche Fragestellungen

Aus der gerichtlichen Fragestellung werden bei Bedarf psychologische bzw.

soweit erforderlich klinische Fragestellungen abgeleitet.

 

  1.      Untersuchungsverlauf und -ergebnisse

Hierbei ist in der Regel Folgendes zu beachten:

  • Die Konfliktsituation der Familie (innerhalb oder mit Dritten) muss grundsätzlich unmittelbar bei den Familienmitgliedern und/oder Dritten erhoben worden sein.
  • Wurden von den Eltern oder Dritten nachvollziehbare, für die Beantwortung der gerichtlichen Fragen fachlich bedeutsame kindeswohlrelevante Bedenken vorgebracht, muss diesen diagnostisch in sinnvollem Maße nachgegangen worden sein und dies dargestellt werden (z.B. Gewalt in der Familie, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung). Ggf. ist gegenüber dem Gericht anzuregen, den Gutachtenauftrag zu erweitern. Können entscheidungserhebliche Informationen nicht verifiziert werden, obliegt die Beweiswürdigung dem Gericht.
  • Ein multimodales Vorgehen ist gefordert, d.h. Sachverständige bedürfen unterschiedlicher Datenquellen zur Entwicklung und Begründung ihrer Empfehlungen (ggf. Ergebnisse verschiedener Verfahren oder Angaben verschiedener Personen).
  • Werden Kriterien wie Bindung, Beziehung, Wille des Kindes oder Einschränkung der Erziehungsfähigkeit als entscheidungserheblich für die Beantwortung der Fragestellung herangezogen, müssen diese mit angemessenen Methoden erfasst worden sein und dargestellt werden.
  • Untersuchungsergebnisse müssen im Berichtsteil ohne Wertung (neutral) dargestellt werden.
  • Versuchte Interventionen, Kompromisse und Lösungen müssen beschrieben werden.
  1. Fachliche Würdigung der Ergebnisse

Hierbei ist in der Regel Folgendes zu beachten:

  • Streng zu trennen sind die Darstellung von Untersuchungsergebnissen und Interventionen einerseits von Bewertungen und Beurteilungen andererseits.
  • Werden Kriterien als gegeben erachtet, müssen sie sich in der Regel auf mindestens zwei unterschiedliche Informationsquellen beziehen, die sich in den Anknüpfungstatsachen (vor allem Akten) und/oder den Untersuchungsergebnissen finden lassen.
  • Bei offenen Fragen bedarf es bei der Ausformulierung von Regelungsvorschlägen eines Hinweises auf deren eingeschränkte Gültigkeit, aber auch auf alternative Regelungsmöglichkeiten.
  • Bei einer Kindeswohlgefährdung ist darzulegen, was die Eltern Gefährdendes (u.a. Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch) getan haben bzw. was sie an Notwendigem unterlassen haben, wie sich dieses Verhalten auf das Kind auswirkt, welche Schädigungen das Kind bereits erlitten hat bzw. welche Schädigungen in unmittelbarer Zukunft mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, mit welchen Maßnahmen (insb. der Jugendhilfe, z.B. Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII) einer Schädigung entgegengewirkt werden kann und ob zu erwarten ist, dass die Eltern an diesen Maßnahmen mitwirken bzw. diese umsetzen werden. Die möglichen Auswirkungen der in Betracht kommenden Regelungsmöglichkeiten auf das Kind und sein Erziehungsumfeld müssen individuell für die konkrete Familie bestimmt und dargestellt werden.
  1. Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung

Hierbei ist in der Regel Folgendes zu beachten:

  • Alle Faktoren/Kriterien müssen individuell bewertet und für die konkrete Familie abgewogen werden. Pauschale Regelungsmodelle, sei es für Verantwortungsbereiche, sei es für Betreuungsregelungen, verbieten sich. Sie sind für den individuellen Fall zu erarbeiten.
  • Sind mehrere Kinder in der Familie in die Begutachtung einzubeziehen, ist für jedes Kind die Einschätzung im Hinblick auf das Kindeswohl individuell durchzuführen.
  • Sachverständige nehmen aus ihrer fachlichen Sicht nur zu den aufgeworfenen Fragen Stellung. Die Subsumtion ihrer Empfehlung unter rechtliche Kategorien und Konstrukte obliegt dem Gericht. Eine Erweiterung der Beweisfrage steht den Sachverständigen nicht zu. Die Mitteilung einer akuten Kindeswohlgefährdung bleibt hiervon unberührt.
  • Sachverständige haben ihr Bewertungssystem offen zu legen, also die Kriterien in Bezug zu ihren Empfehlungen zu setzen und mögliche alternative Bewertungen zu erwähnen.
  • Bei Empfehlungen haben Sachverständige die Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Regelungen abzuwägen. Alternativen sind mit zu bewerten.
  • Empfohlene Interventionen oder Hilfsmaßnahmen müssen im Hinblick auf ihre voraussichtliche Wirksamkeit und Notwendigkeit, ggf. unter Abwägung von Alternativen, begründet werden.